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Die Krönung einer langen Entwicklung
von Klaus Zaugg, Stockholm - Alle sagen es, aber unser Kolumnist wagt es nicht zu glauben: Die Schweiz ist im WM-Finale gegen Schweden Favorit. Viele Jahre haben die Eisgenossen gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen.
Auf den ersten Blick ein Grund zur Sorge. Nicht alle Schweizer kommen aufs Eis. Es ist 11.45 Uhr. Aufwärmtraining vor der Mutter aller Spiele. Diesmal nicht in der Trainingshalle. Sondern auf der grossen Bühne. In der Globen-Arena. Jetzt, leer, wirkt dieses Stadion mit den roten Sitzen wie ein Broadway-Theater. Die Akustik ist in der leeren Arena viel besser als in der alten Trainingshalle, ja geradezu unheimlich. Jedes Geräusch ist zu hören. Fast so gut wie im Tabernakel am Tempelplatz zu Salt Lake City.
Patrick Fischer leitet das Aufwärmen. Bandengeneral Sean Simpson beugt sich derweil im Coachingbüro wohl mit Leitwolf Martin Plüss und Verteidigungsminister Roman Josi über den taktischen Kartentischen. Die Oberste Heeresleitung unseres Hockeys entwirft den Feldzugsplan gegen die Schweden.
Viele Absenzen beim Aufwärmtraining
Draussen auf dem Eis ist die Trainings-Amtssprache unter Patrick Fischer ausnahmsweise Deutsch und nicht Englisch.
Julien Vauclair, Rafael Diaz, Martin Plüss, Ryan Gardner, Denis Hollenstein, Roman Josi, Julian Walker, Robin Grossmann und Simon Moser fehlen. Ein Grund zur Sorge? Nein. Wenn am Vorabend ein Spiel war, ist das Aufwärmtraining am nächsten Morgen fakultativ. Das ist auch bei den Schweden so. Sie hatten beim Aufwärmtraining sogar nur sechs Feldspieler auf dem Eis.
Die Spieler, die jetzt nicht auf dem Eis herumfahren, halten sich in der Kabine auf. Lassen sich massieren oder mühen sich auf dem Standvelo ab. Mit ein bisschen Pessimismus können wir auch sagen: Alle, die nicht aufs Eis kommen, haben vielleicht ein ganz kleines «Bobo». So wie das nach neun Spielen auf diesem Niveau halt üblich ist. Aber alle können spielen. Wenn es los geht, spürt keiner mehr ein Ziehen oder Stechen.
Die Jungs auf dem Eis sind locker. Es sind junge Männer, die spielen. Diese spielerische Leichtigkeit, das Merkmal dieser Mannschaft, ist auch bei diesem letzten Aufwärmtraining zu spüren. Mit der Nagelfeile wird noch ein wenig das Selbstvertrauen poliert. Philippe Furrer jagt eine Serie von Direktschüssen ins leere Tor.
Direktschüssen ins leere Tor.
Experten sehen Schweizer als Favoriten
Einsam wie Zugvögel, die den Abflug nach Süden verpasst haben, sitzen ein paar Männer in der riesigen Arena und schauen dem Treiben unserer Helden zu. Einer davon ist Juhani Tamminen. Einst unser Nationaltrainer (nach Olympia 1992 gefeuert), zuletzt nur noch ein Trainer-Clown bei den ZSC Lions. Jetzt ist er der populärste Hockey-Experte in der Geschichte des finnischen Farbfernsehens. Finnlands Antwort auf Don Cherry. Wie Kanadas Kult-TV-Experte kleidet er sich in kunterbunt und ist populär wie ein Rockstar. Und immer mit einer klaren Meinung und einer frechen Schnauze: «Die Schweiz ist 55:45 Favorit. Weil die Schweiz ganz einfach in jeder Beziehung die bessere Mannschaft ist. Sie haben alles: Weltklassegoalies, vier Linien, ein gutes Spielsystem und mit ihrem Tempo stellen sie alle Gegner vor unlösbare Probleme. Einfach grandios, diese Schweizer.»
Von den Schweden hält er nicht viel. «Die forcieren die Sedin-Zwillinge bis sie aus den Schuhen kippen und zerstören ansonsten das Spiel. Furchtbar.» Was könnte die Schweizer auf dem Weg zum Gold den stoppen? «Nichts mehr, weil Du ja vor diesem Spiel keine Polemik mehr entfachen und keinen Unsinn mehr schreiben kannst.»
Wenn da nicht die Vergangenheit wäre
Das ist verrückt: Hockeytechnisch sind die Schweizer Favorit in einem Spiel um den WM-Titel. Das mag für einen neutralen Beobachter wie Juhani Tamminen ja normal sein. Aber was mein Verstand ja auch sagt, wage ich nicht zu glauben. Weil wir eine Vergangenheit haben.
So ist das also wenn sich ein Kreis schliesst. Ich erinnere mich noch an den 3. Mai 1995 als ob es gestern gewesen wäre. Es war in der genau gleichen Arena. Im Globen. Die roten Sitze sind noch genau gleich wie damals. An diesem 3. Mai 1995 tritt die Schweiz um die Mittagszeit gegen Österreich zum Relegationsrückspiel an. Die erste Partie hatten wir 1:4 verloren. Es ist ein hoffnungsloser Fall. Wir erreichen in einem jämmerlichen Spiel ein 4:4 und steigen in die B-WM ab.
Wir hatten im Laufe der Saison Nationaltrainer Hardy Nilsson gefeuert und für die WM hatte der Schweiger Mats Waltin, der Beckenbauer des Schwedischen Hockeys, die Nationalmannschaft übernommen. Auf die Frage eines vorwitzigen Chronisten, ob er, der grosse Waltin, jetzt ein Verlierer sei, sagte er mit unerschütterlichen Ruhe und schwedischem Akzent: «Jo, jooo, joooo, das kannst Du so sagen.»
Eine Mondlandung einer in der Eidgenössischen Pulverfabrik Wimmis gebauten Rakete scheint in diesem Augenblick wahrscheinlicher als eine WM-Finalqualifikation der Schweizer. Das WM-Finale 1995 verlieren die Schweden übrigens 1:4 gegen Finnland. Es ist der erste Titel der Finnen.
Der Anfang des Aufstiegs
Und doch keimt 1995 schon das Wunder von 2013. Störrisch weigern sich die Eisgenossen, ausländische Spieler in grosser Zahl oder gar unbeschränkt in der Meisterschaft zuzulassen. So wie dies alle – alle – anderen Länder tun. Wir bleiben ein Gallisches Dorf.
Peter Zahner (heute Manager ZSC Lions) hat beim Verband ein neues Ausbildungskonzept aufgegleist. Unsere besten Jungen beginnen ab 16 Jahren gegen die besten gleichaltrigen Spieler der Welt zu spielen. Gegen die Schweden, Tschechen, -Finnen, Russen. Noch sind wir fast chancenlos. Aber die ersten Fortschritte zeigen sich. Eine neue Generation wächst heran. 1998 gewinnen wir bei der U 20-WM in Helsinki sensationell WM-Bronze. Bill Gilligan und Alfred Bohren stehen an der Bande. Am 3. Januar 1998 gewinnen wir das Bronze-Spiel gegen Tschechien 4:3 nach Penaltyschiessen. Den entscheidenden Penalty verwertet Sandro Rizzi. Es ist der erste ganz grosse internationale Auftritt der neuen Spielergeneration. Einer ist dabei, der heute das Finale hier im Globen bestreiten wird: Verteidiger Julien Vauclair.
Und da ist noch etwas: Ich bin wahrscheinlich der einzige Chronist bei dieser WM, der Martin Gerber noch in der 2. Liga (!) bei Signau hexen sah. Ja, Martin Gerber hatte alle Mühe, sich als Nummer eins gegen «Budi» Pfister (heute ein gutsituierter Bankkaufmann) zu behaupten. Wenn da jemand behauptet hätte, dieser Tinu Gerber werde nicht nur Stanley Cup-Sieger. Der werde 2013 auch noch bei der WM im Finale gegen Schweden im Tor stehen – ich hätte ihn für einen Braschtibänzen gehalten und einen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt empfohlen.
Die Krönung langer Arbeit
Heute also wird eine lange Entwicklung gekrönt. Es ist ja nicht so, dass wir mit dem Dichter Emanuel Geibel sagen müssen: «Was rühmst Du Deinen schnellen Ritt! Dein Pferd ging durch und nahm Dich einfach mit.» Nein, die Pferde sind nicht durchgebrannt wie damals, beim kuriosen WM-Halbfinale von 1998. Als uns zwei Siege für den 4. WM-Schlussrang reichten. Es ist ein kontrollierter, wunderbarer Ritt durch die neun Siege ins WM-Finale von 2013.
Die kühnen Hoffnungen von 1998 haben sich erfüllt, die Schmach von 1995 ist getilgt, die Geschichtsbücher brauchen wir nicht mehr. Fortan können wir einfach bei allen Erfolgen im Schweizer Mannschaftsport sagen: So gut wie seit der Eishockey WM 2013 nicht mehr.