Neue Zürcher Zeitung – Internationale Ausgabe
Mittwoch, 22. Dezember 2004
Seite 37
Aufbruchstimmung in Österreichs Eishockey
Das Team der Vienna Capitals und die WM im Mai 2005 als Impulsgeber
Die Stimmung in der ausverkauften Albert-Schultz-Halle im Stadtteil Kagran im Norden von Wien ist kaum zu überbieten. Über 4500 Zuschauer feiern enthusiastisch ihr Team, die Vienna Capitals. Der Titelhalter Klagenfurter Athletik Club (KAC) wurde soeben mit einer 6:1-Niederlage deutlich in die Schranken gewiesen. Mit elf Siegen in Folge sind die Capitals das Team der Stunde im Austria-Eishockey. Dabei verließen die Wiener im ersten Viertel des Championats noch oft als Verlierer die Rinks. «Die Meisterschaft ist ein Marathon und kein Sprint», hatte Capitals-Coach Jim Boni die Mannschaft und die Medien immer wieder wissen lassen. Dieser Devise folgend, begann der 41-jährige Kanadier das Training bewusst erst drei Wochen später als die Konkurrenz. Und er beschränkte sich auf nur vier Testspiele. Das Team soll erst in den Playoffs mit der nötigen Frische die entscheidenden Siege erzielen. Der Erfolg gibt Boni nu Recht. Denn mit der zuletzt gezeigten Konstanz wurde der KAC mittlerweile auch von der Tabellenspitze verdrängt.
Die Unterbrechung durch das Vierländerturnier in der Slowakei, in dem das Nationalteam Österreichs am Samstag der Schweiz 2:4 unterlag und den letzten Platz belegte, kam den Capitals nicht sonderlich gelegen, sagte Boni. Selber hatte er als Assistenzcoach die kanadische Auswahl nach Piestany begleitet. Das nationale Geschehen scheint ihm wichtiger zu sein. Nur noch zwei Siege fehlen dem Coach, um einen persönlichen Rekord zu egalisieren: 13 Siege in Folge hatte er einst mit dem Team von Ingolstadt erzielt, das er in die DEL führte. Zuvor wurde Boni viermal italienischer Meister und schaffte mit Italien den Aufstieg in die A-Gruppe des Eishockeys. In Wien ist es dem Erfolgstrainer zuzuschreiben, dass eine Ansammlung exzellenter Individualisten in wenigen Wochen zu einem Team zusammenwuchs. Der Kader zählte nominell zu den stärksten der Liga, doch die Abstimmung und die Harmonie der Cracks untereinander fehlten, waren doch um Dieter Kalt, den Captain der Austria-Nationalmannschaft, in kurzer zahlreiche neue Spieler integrieren. Zur Offensivstärke mit dem austro-kanadischen Paradesturm Mike Craig, Bob Wren und Markus Peintner gesellte sich nach und nach auch Stabilität in der Defensive dank den torgefährlichen Verteidigern Robert Lukas und Darcy Werenka sowie dem Bollwerk Frederic Chabot im Tor.
Der Verleger und Werbekaufmann Hans Schmid und der ehemalige Eishockey-Crack Martin Platzer haben als Präsident und Co-Präsident der Capitals erheblichen Anteil daran, dass sich Wien in kurzer Zeit zur Eishockey-„Boomtown“ entwickeln konnte. Das war nicht immer so. In den Geschichtsbüchern des Österreichischen Eishockey-Verbands (ÖEHV) muss man sehr weit zurückblättern, um auf markante Erfolge von Wiener Klubs zu stoßen. Zuletzt gewann 1962 der Wiener Eislaufverein (WEV) den Titel. Danach wechselten sich vor allem Klubs aus Kärnten und Vorarlberg im Titelrennen regelmäßig an der Spitze ab. Die Gegebenheiten erinnerten manchmal an die DDR, wo nur zwei Klubs auf hohem Niveau spielten. In Österreich führte dies während vieler Jahre zu einer «Inzucht-Liga» ohne ausgeprägten Wettbewerb. Die Einseitigkeit wiederum ließ das Interesse der Zuschauer und der Medien sinken. Schlechte Vermarktbarkeit und finanzielle Experimente mit teuren Ausländern wie zuletzt im Kader des Europacup-Siegers VEU Feldkirch führten in den achtziger und neunziger Jahren wieder zur unfreiwilligen Reduktion der Liga.
Inzwischen herrscht aber neuerliche Aufbruchsstimmung in den Eishallen zwischen Innsbruck (Haie) und Wien. Neben den traditionsreichen Kärntner Hochburgen Villach (VSV) und Klagenfurt (KAC) ist auch in Salzburg (Red Bulls), Graz (99ers) und Linz (Black Wings) wieder ansprechendes Eishockey zu sehen. Die Liga ist so ausgeglichen wie schon Jahre nicht mehr. Damit beginnt auch das Interesse der Medien wieder zu steigen. Weil sich der öffentlichrechtliche Fernsehender ORF jahrelang mit Kurzzusammenfassungen um Mitternacht begnügte, kooperierte die Eishockey-Liga (EHL) schließlich mit Pay-TV Sender Premiere. Am Donnerstag und Sonntag wird jeweils der Top-Match der Runde live übertragen.
Vergangenes Frühjahr bekam der ORF erstmals den Druck der Eishockey-Anhänger unter den gebührenpflichtigen Zuschauern zu spüren. Das ÖEHV-Team war an der WM-Vorrunde in Prag mit dem Sieg gegen Frankreich (6:0) und je einem Remis gegen den späteren Weltmeister Kanada (2:2) und gegen die Schweiz (4:4) überraschend in die Zwischenrunde vorgestoßen. Erst nach massiven Protesten seitens der Zuschauer reagierte der Sender und übertrug die folgenden Spiele im Fernsehen. Obschon dem Team Austria in der Zwischenrunde weitere Erfolge verwehrt blieben, löste der erfrischende Auftritt der jungen Equipe in Prag eine Welle der Sympathie und Begeisterung in Österreich aus.
Die Ausgangslage kann damit, zumindest aus österreichischer Sicht, für die vom 30. April bis zum 15. Mai in Innsbruck und Wien stattfindende WM nicht besser sein. Und der Titelkampf wirft schon jetzt deutliche Schatten voraus. Das nationale Interesse ist beträchtlich und verstärkt den Eishockey-Boom besonders auch in Wien. Während in Innsbruck vor zwei Wochen die 9000 Zuschauer fassende Olympia-World Halle neu eröffnet wurde, wird wie Wiener Stadthalle (10 000 Plätze) nach 1967, 1977, 1987 und 1996 zum fünften Mal Schauplatz eines WM-Turniers sein.
Neue Zürcher Zeitung – Internationale Ausgabe
Mittwoch, 22. Dezember 2004
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