Stau auf der Nordbrücke stadteinwärts ...
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Alexander Tomanek -
21. November 2011 um 08:42 -
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Morgen für Morgen sitze ich Transdanubier (so heißen Wiener, die nördlich der Donau wohnen) in meinem Auto und staue mich mehr oder weniger genervt über die Nordbrücke stadteinwärts, um meine kleine Tochter in den Kindergarten und meine Frau sowie mich selbst zu unseren Arbeitsplätzen zu bringen. Auch alle Nicht-Wiener, die den österreichweiten Verkehrsfunk hören, werden die Nordbrücke bereits kennen. Zwei Spuren voll mit Autos. Und in den Autos Menschen mit grimmigen, teils aggressiven Gesichtern.
Regelmäßig fällt mir dabei ein Fahrzeug auf, in dem auf der Rückbank drei süße kleine Mädels sitzen und auf dem Fahrersitz mal abwechselnd eine Frau, manchmal auch ein glatzköpfiger Mann. Dieser Mann strahlt Ruhe aus, hupt nicht rum, wechselt auch nicht dauernd die Spur, wie so viele andere Verkehrsteilnehmer, die dadurch eigentlich erst den richtigen Stau auslösen. Nicht jedoch dieser Mann. Er lächelt zu seinen Töchtern nach hinten und scheint ihnen irgendetwas zu erzählen.
Warum fällt mir dieser Typ auf? Warum blogge ich über so etwas Nebensächliches? Naja, auf dem Fahrzeug sind Sponsorkleber der Vienna Capitals und der Fahrer ist deren Kapitän, Benoit Gratton, der seine Kinder gerade ins Lycée, die französischsprachige Schule/Kindergarten bringt.
Meine Frau war ganz verblüfft, als sie ihn – so von Auto zu Auto - das erste Mal „off-Ice“ gesehen hat. Schließlich kennt sie ihn fast nur mit hochrotem Kopf unter seinem schwarzen Helm, ständig irgendwie herumschreiend und wild gestikulierend, meistens in Richtung Schiedsrichter. Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Der liebenswerte entspannte Daddy im Auto – der Heißläufer in Österreichs Eisarenen.
Doch was bringt Benoit Gratton derart in Rage, dass er in Salzburg letzte Woche nach rekordverdächtigen 25 Sekunden bereits eine 10-Minuten-Disziplinarstrafe ausfasste? Was lässt Benoit Gratton „unglaubliche“ (© Michael Knöppel) 717 Strafminuten in der EBEL erreichen, bei lediglich 184 absolvierten Spielen? 3,89 Strafminuten pro Match. Im Vergleich dazu wirkt Phil Lakos bei den Caps mit 2,76 PIM/Game wie Prinzessin Lillifee auf dem Ponyhof.
Benoit Gratton ist ein begnadeter Eishockeyspieler. Das ist von Zusehern und Fans eines jeden Teams unbestritten. Aber Gratton ist auch einer der meist gehassten Gegner, bei Fans wie auch bei Spielern. Benoit Gratton wird an jedem einzelnen Hockey-Abend in jedem einzelnen Shift versuchen, das Bestmögliche aus sich und seinem Team herauszuholen. Dabei geht er oft an die Grenze des Erlaubten und immer wieder auch darüber hinaus. Dieses Überschreiten der Limits ist ihm in der entscheidenden Sekunde dann aber auch nicht immer bewusst und wenn doch – dann zumindest egal. Denn für den Erfolg ist er bereit alles zu tun. „Whatever it takes“ stand im Kabinengang der Carolina Hurricanes im Jahr des Stanley Cup Triumphes 2006 in großen Lettern geschrieben. Gratton verkörpert diesen unbedingten Siegeswillen mit jeder Faser seines Körpers.
Und oftmals gibt ihm in einer wichtigen Situation genau dieses Ausbrechen seiner Emotionen den entscheidenden Schub, um einen Zweikampf oder eine Scheibe für sich zu gewinnen. Das ist Benoit Gratton und er wird sich nicht mehr ändern. Er wird sich immer für sein Team aufopfern und sich in Schüsse schmeißen. Er wird aber auch weiterhin jeden seiner Kollegen lautstark kritisieren, sollten diese nicht dasselbe machen und aus Angst vor einer Verletzung einem Schuss ausweichen, anstatt ihn zu blocken.
Ich sag Euch eines: Ich hasse seine Undiszipliniertheiten, seine Auszucker, aber ich liebe es, ihn spielen zu sehen (ähnlich wie einen Todd Elik) und ich empfehle allen Nicht-Wienern ein Auswärtsspiel der Caps in Eurer Halle mal aus diesem Blickwinkel zu beobachten und das Augenmerk rein auf den gegnerischen Center und Captain mit der Nummer 25 zu legen. Beobachtet jeden seiner Wechsel ganz genau, beobachtet sein Verhalten auf der Spielerbank gegenüber seinen Teamkollegen. Ihr werdet mehr in ihm sehen, als den bloßen Heißläufer mit der markanten Zahnlücke.
Bild: Wikipedia / My Friend / GNU